Bild: Quint Buchholz
Jeden Tag holt er das alte, weiße Ruderboot aus dem Haus, mit dem aufgemalten gelben Mond und den unzähligen Sternen auf der Fassade und trägt es auf den Schultern an den Strand. Die weiße Farbe wurde vermutlich schon ein paar Mal neu aufgetragen und hielt das alte Boot zusammen.
Jeden Tag.
Jeden Tag stoppt er auf Höhe ihrer roten Lieblingsgummistiefel, mit denen sie auf der Bank am Strand sitzt. Mehr kann er von ihr nicht sehen, wenn das Boot auf seinen Schultern thront.
„Hallo rote Gummistiefel!“, sagt er dann.
Jeden Tag.
„Hallo weißes Boot!“, antwortet sie. „Hallo Möwe!“, sagt sie noch, weil jedes Mal die Möwe auf dem umgedrehten Boot landet. Die Möwe antwortet nie, schaut sie nur an und dann wieder weg aufs Meer.
Jeden Tag.
Jeden Tag schaut sie ihm nach, wie er das Boot von seinen Schultern auf den Strand wuchtet und langsam, Schritt für Schritt ins Wasser zieht und, wie die Möwe, obwohl sie es langsam besser wissen musste, jedes Mal kreischend aufs Meer hinausfliegt.
Jeden Tag.
Jeden Tag möchte sie mit ihm aufs Meer hinausfahren. Jeden Tag sagt sie sich die Frage in Gedanken immer wieder vor:
„Nimmst du mich mal mit?“. „Nimmst du mich mal mit?“. „Nimmst du mich mal mit?“
Jeden Tag öffnet sie ihren Mund, doch die Worte wollen nicht. Sie bleiben ihr im Hals stecken. Sie traut sich einfach nicht, ihn zu fragen.
Jeden Tag.
Bis zum heutigen Tag, einem Montag, der nicht so ist wie all die anderen Montage vor ihm. Sie hatte in der letzten Gewitternacht geträumt, dass es heute anders sein würde und, weil sie an solche Dinge mit Träumen und wahr werden glaubt, kommt sie heute früher zur Bank.
Lange bevor er mit dem Boot aus dem Haus kommt, schreibt sie mit Schweißperlen auf der Stirn und einem Stock aus den Dünen ihre Frage direkt auf den Sandweg vor ihrer Bank.
„Nimmst du mich mal mit?“
Auch heute stoppt er mit dem Boot auf seinen Schultern auf Höhe ihrer Gummistiefel und sagt:
„Hallo rote Gummistiefel, ich dachte schon ihr fragt nie!“ Dann geht langsam weiter.
„Hallo weißes Boot!“ antwortet sie, lacht laut und geht ihm hinterher. Die Möwe fliegt aufgeregt weg, weil heute nicht jeder Tag ist.
Liebe Sabine,
ich mag sie, deine Figuren. Ist es Henni mit den lustigen Gummistiefeln? Oder auch der Mann, der das Boot trägt.
Mich nimmt die Geschichte mit in einen eigenen Traum voll Sehnsucht nach einer Begegnung, auf die ich mich schon lange freue.
Meine Tochter ist dieses Wochenende da. Sie war ein Jahr in Afrika, kommt zu Besuch und reist in einer Woche wieder in die Ferne.
Was wird sie erzählen? Ich bin auf ihre Geschichten gespannt und fühle mich heute aufgeregt und voll Ungeduld. Und voll Dankbarkeit.
Alles Liebe, dir Sabine.
Liebe Birgit,
das freut mich sehr, dass dir Henni so gut gefällt. Und, dass sie dich mit „in eigenen Traum von Sehnsucht nach einer Begegnung“, auf die du dich schon lange freust, mitnimmst, gefällt mir noch viel mehr …
Henni bewegt mich und uns und Henni nimmt mich und uns mit auf neue, andere und besondere Wege, die vielleicht schon heute da sind und von uns nur noch nicht gesehen werden (können).
Liebe nachdenkliche Grüße,
Sabine
Hallo Sabine,
du erzählst eindringlich, wie die beiden Protagonisten der Geschichte so gefangen sind in ihrem routinierten Ritual, dass es ihnen so schwer fällt, eine neue – mutigere – Art von Kontakt miteinander auszuprobieren.
Ich frage mich, wie es überhaupt zu diesem Begrüßungsritial gekommen ist… Ist der Mann mit dem Boot überm Kopf derjenige, der sich immer vor Blickkontakt versteckt hält und keine andere Kontaktaufnahme als diese paar Worte ermöglicht? Dass die Person (Frau) mit den roten Gummistiefeln dieses gleichförmige Spiel lange Zeit mitmacht, kommt mir wie eine Form des Kennenlernens vor. Vielleicht war jeder Tag von Außen betrachtet gleich, aber im „Innenleben“ haben sich die beiden aufeinander zubewegt, bei beiden hat sich der Wunsch verstärkt, gemeinsam aufs Meer zu fahren.
Dass sie mit den roten Gummistiefeln endlich das Ritual durchbrechen konnte, fand ich sehr anrührend. Auch die Art, wie sie es tut, ist stimmig.
Ich finde es toll, wie du diesen kurzen Text so „dicht“ geschrieben hast, dass bei mir als Leserin viel ankommt.
Die Geschichte bringt mich zum Nachdenken, welche Routinen und „Schutzhauben“ ich in meinem Alltag so habe … und wen (oder was) ich dabei vielleicht übersehe.
Ein Frage zu deinem Schreibprozess: Hast du zuerst das Bild vor dir gehabt und dir dann die Geschichte dazu ausgedacht? Oder hattest du schon ein paar Ideen herumschwirren und dann hat das Bild quasi „dich gefunden“?
Viele Grüße
Dorit
Liebe Dorit,
ganz lieben Dank für dein ausführliches Feedback und deine Gedanken und Assoziationen zum vorliegenden Text …
Zur Entwicklung der Text-Miniatur: Die Figur von Henni war zuerst da. Sie tauchte zuerst im Blogadventkalender 2019 auf und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Danach kam das Bild und beim Betrachten des Bildes entstand die Szene, in der sich beide das erste Mal anders begegnen. Ich mag solche Situationen, die entstehen, wenn wir unsere Gewohnheiten ändern und die damit verbundenen Ängste überwinden.
Herzliche Grüße,
Sabine
Ah, Danke für die Erläuterung. Das ist wirklich ein interessanter kreativer Prozess bei dir.